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Abb. oben: Löwenstraße 10, 1949 |
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Ein Haus im "Fabrikdorf" Pfersee Das um 1870 errichtete zweistöckige Gebäude – Architekt und Bauherr sind unbekannt - entspricht dem Typus des frühen Arbeiterwohnhauses, als Wohnungsnot und Bauspekulation noch nicht zum mehrgeschossigen Mietwohnungsbau zwangen, sondern vor allem in den Augsburger Vorstädten "ländlich" gebaut wurde. Auf vier Metern Breite und 12 Metern Länge weist es einen leicht trapezförmigen Grundriss auf. Kennzeichnend sind das Satteldach mit zwei Gauben auf jeder Seite, geteilte Fenster und Klappläden. Erbaut wurde das Haus aus Ziegeln; unter den Dachschrägen im 2. Stock mussten allerdings Holzwände genügen. In den Ziegelwänden finden sich immer wieder Wertachkiesel, mit denen kleinere Schäden notdürftig geflickt wurden. Auf einen Keller hatte man wegen der Überschwemmungen der Wertach bis ins 20. Jahrhundert verzichtet. Erst im Zweiten Weltkrieg wurde ein Luftschutzkeller ausgeschachtet, der sich heute noch quer unter dem Haus hinzieht.
Seine architektonische Schlichtheit teilt das Gebäude mit fast allen übrigen Häusern in den vier schmalen Querstraßen nördlich der Pferseer Hauptachse, der Augsburger Straße. Denn hier wurden ab 1866 die ersten Wohnungen für Arbeiter und Handwerker der Spinnerei und Buntweberei J. Krauß & Sohn im aufstrebenden "Fabrikdorf" Pfersee errichtet.
"Ländliches" Erscheinungsbild Auf den ältesten überlieferten Fotos (um 1930) kann man im Vergleich mit der Nachbarbebauung erkennen, wie liebevoll und „ländlich-dörflich“ die damalige Eigentümerfamilie Johann und Therese Scherer das Anwesen hergerichtet hatte: Die gerundeten Fenster- und Türstürze im Erdgeschoss waren mit weißer Ornamentik verziert, gestutzte Buchsbäumchen flankierten den Hauseingang, üppige Gardinen verwehrten den Einblick ins Innere und wiesen gleichzeitig auf den Wohlstand der Eigentümer hin.
An den großen Hof schloss sich ein Obst- und Gemüsegarten an. Bis in die späten 1930er Jahre gab es auch einen Schweinestall. Beides deutet darauf hin, dass sich die Bewohner gerade in schweren Zeiten mit selbsterzeugten Lebensmitteln über die Runden halfen. Die bereits 1899 bezeugte Waschküche und die zur Garage umgewandelte Remise existierten bis 2005.
Quer zum Haus wurde 1899 ein ebenerdiger, etwa vier mal acht Meter großer Anbau errichtet. Von 1899 bis 1993 befand sich hier die Backstube der "Bäckerei Scherer". Ab 1955 war im Anwesen zudem der "Erwin Scherer Automatenvertrieb" (ESA) angesiedelt, der sich bis zum Geschäftsverkauf 1993 zum größten Getränkeautomatenaufsteller der Region entwickeln sollte. Seit 2005 betreibt der neue Eigentümer im Erdgeschoss eine psychotherapeutische Praxis.
Die Geschäftsentwicklung bestimmte die baulichen Veränderungen: die umfangreichen Ladenumbauten und -erweiterungen 1948, 1971, 1978 und 1981 ebenso wie die Umgestaltung der Backstube ab 1924, die schließlich 1971 zum Lagerraum und zur Werkstatt des Automatenvertriebs umfunktioniert wurde. Das "Gärtle" wich in den 1980er Jahren einer Café-Terrasse. Ab 2005 wurden die ehemalige Backstube und die baufälligen Nebengebäude zugunsten von Parkplätzen abgerissen. Heute ist das Erscheinungsbild des Hauses zeitlos modern.
Von Arbeitern, Bäckern und Studenten Vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich gemäß den Adressbüchern und Hausbögen vor allem Arbeiter eingemietet. Ab den späten 1920er Jahren änderte sich das Bild: Die florierende Bäckerei brauchte Personal, und das wohnte mit im Haus. Bäckerlehrlinge und Dienstmädel gaben sich bis in die 1950er Jahre zum Teil wochenweise die Klinke in die Hand. Um neue Lehrbuben zu rekrutieren, zog die Bäckerfamilie regelmäßig über die Dörfer nordwestlich von Augsburg, wo sie weitreichende verwandtschaftliche Beziehungen hatte.
Nach dem Tod ihres Mannes stellte Therese Scherer 1934 einen Bäckermeister an, der die bisherige Eigentümerwohnung im Erdgeschoss erhielt. Sie selbst und ihre beiden kleinen Söhne Erwin und Josef bezogen Räume im ersten und zweiten Stock. Eine nachträglich eingebaute "Hühnerleiter", die von ihrer Wohnung direkt in das darunter liegende Ladenzimmer führte, stellte sicher, dass ihr vom Geschäftsleben nichts entging. Vermietet wurde überwiegend zimmerweise – in den 1960er Jahren auch an Studenten aus Frankreich, dem Iran und Palästina.
Späte technische Verbesserungen Bis Anfang der 1960er Jahre gab es im Haus nur zwei Toiletten und ein einziges Bad. 1899 wurde an sanitären Anlagen lediglich ein Abort im Hof erwähnt. Im selben Jahr wurde Pfersee an die Augsburger Wasserleitung angeschlossen. Geheizt wurde bis in die 1930er Jahre mit Kachelöfen, deren Kacheln später in die Zwischenböden der Anbauten "entsorgt" wurden. Die vermieteten Zimmer waren bestenfalls mit kleinen Kanonenöfen ausgestattet. Als 1963 Erwin Scherers Tochter Brigitte zur Welt kam, wurde der zweite Stock zur Wohnung ausgebaut, mit Küche und Bad mit Holz-Kohle-Ofen. Das Kinderzimmer war immer noch nicht beheizbar. An den Fenstern waren im Winter Eisblumen, auf den Bettdecken lag morgens Raureif. Erst seit 1994 wärmt eine Zentralheizung das gesamte Haus.
Nach dem Tod Therese Scherers 1971 schloss die "Bäckerei Scherer" für kurze Zeit. Sohn Erwin zog mit Frau und Kind in den zur Etagenwohnung umgebauten ersten Stock. Sie waren ab jetzt zwar die einzigen Bewohner, aber dennoch nicht allein im Haus. Denn die Bäckerei wurde bald als Backwarenverkauf und Café wiedereröffnet. Deren Angestellte sowie die des Automatenvertriebs nahmen mit dem Chef gemeinsam das Frühstück und Mittagessen ein. 1993 wurden beide Geschäfte aus Altersgründen aufgegeben bzw. verkauft.
2001 versuchte sich vorübergehend ein Kindermodengeschäft in den Ladenräumen zu etablieren. Der aktuelle Eigentümer wandelte 2005 das Erdgeschoss in eine Praxis um, und wohnt selbst im ersten Stock.
Vom "Fabrikdorf" zum "Wohnviertel" Die Löwenstraße 10 spiegelt als Wohn- wie als Geschäftshaus prototypisch die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in Pfersee wider. Errichtet wurde es als Wohnhaus für Arbeiter, die in der Nähe der neu erbauten Fabriken leben wollten. Doch das blühende "Fabrikdorf" Pfersee mit seinen hochschnellenden Einwohnerzahlen (1869 rund 1.900, 1910 rund 11.000) wollte nicht nur mit Arbeit und Wohnung, sondern auch mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgt sein. So kam es neben der Unterbringung von Arbeitern auch zur Einrichtung eines Handwerksbetriebs in der Löwenstraße 10. Therese Scherer verkaufte Semmeln nicht nur "an privat", sondern belieferte unter anderem die "Spinnerei und Weberei Pfersee" sowie die "Süddeutsche Trikotwaren / Raff & Söhne" täglich mit dreistelligen Mengen, später auch die nahe gelegenen Kasernen der Wehrmacht.
Bis Anfang der 1970er Jahre gab es in der Löwenstraße neben der Bäckerei Scherer noch einen Schuster, einen Friseur, eine Spenglerei, einen Zeitschriftenladen mit Leihbücherei und, an der Ecke zur Augsburger Straße, das Wirtshaus "Zum Goldenen Löwen". Doch seit dieser Zeit verschwanden die Fabriken aus Pfersee. Gleichzeitig übernahmen Supermärkte die Funktion der kleinen Läden. Die Löwenstraße war bald keine "Laufstraße" mehr, sondern entwickelte sich wie all die anderen "Sträßle" im Viertel zur reinen "Wohnstraße". 1993 schloss mit der Bäckerei Scherer das letzte alte Geschäft in der Löwenstraße. Heute gibt es hier keinen einzigen Laden mehr.
Verwendete Materialien
Gedruckte Quellen - Augsburger Adressbücher (bis 1921) - Einwohnerbuch für Augsburg (1922-1956) - Adressbuch der Stadt Augsburg (ab 1957) - Adressbuch von Pfersee (1903)
Stadtarchiv Augsburg - Hausbogen Löwenstr. 10 - Polizeibogen Löwenstr. 10 - Meldekarte Therese Scherer
Private Unterlagen Familie Scherer - Urkunden - (Um-)Baupläne - Wertermittlungsgutachten vom 13.8.2003 - Familienfotos - Erinnerungen der Autorin, die 1963-1998 im Haus lebte
Interviews wurden geführt mit: - Josef Scherer
- Renate Scherer
Bilder Privatbesitz Familie Scherer
Literatur
Fürmetz, Gerhard / Nerdinger, Winfried / Wolf Barbara (Hg.): Häusergeschichte(n). Augsburger Häuser und ihre Bewohner. Augsburg 2009, S. 18-19.
Geschichtswerkstatt Augsburg e.V. (Hg.): Nicht Stadt, nicht Dorf. Leben und Arbeiten in Pfersee. Dokumentation und Ausstellung. Augsburg 1994.
Kucera, Wolfgang / Forster, Reinhold (Hg.): Augsburg zu Fuß. 16 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hamburg 1993, S. 187-195.
Weggel, Renate: Pfersee. Dorf – Industrieort – Vorort. Die Industrialisierung und ihre Auswirkungen auf eine Gemeinde vor den Toren Augsburgs. Augsburg 1995.
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